Nach einem Monat in Italien im Coronavirus-Ausnahmezustand möchte ich hier meinen persönlichen Blick hinter die Kulissen mit Euch teilen. Denn das, was hier bei uns gerade passiert, erreicht Euch gerade mit voller Wucht – und geht jeden etwas an.
Hier in den Weinbergen von Tregnago, 35 km vom Zentrum von Verona entfernt, geht es uns im Moment gut. Noch sind wir –als einziger Ort in der gesamten Provinz Verona – frei von Ansteckung, zumindest ist kein Fall bekannt.
Vielleicht haben wir Glück und die strengen Maβnahmen der italienischen Regierung greifen noch rechtzeitig, um das Schlimmste von uns abzuwenden: Eine Situation wie in der Lombardei, aus der allein gestern 596 an Corona-Virus Verstorbene gemeldet wurden, während die Krankenhäuser dort gleichzeitig 593 Neuaufnahmen verzeichneten.
In ganz Italien wurden an einem einzigen Tag gestern am offiziellen Frühlingsbeginnn 793 Opfer gemeldet, im Verhältnis zu 1000 Genesungen. Ist das nicht ein erschreckendes Verhältnis? Die Krankenhäuser sind in den besonders betroffenen Regionen an ihre Grenzen gelangt, Ärzte und Pflegepersonal erschöpft, Schwerkranke mit Beatmungsgerät müssen in die Krankenhäuser anderer Region gebracht werden. Alle menschenmöglichen Anstrengungen müssen unternommen werden, von jedem einzelnen, das sich dieses Modell Bergamo nicht vielfach wiederholt. In Italien, in Deutschland, überall in der Welt.
Statistik hat ihre Grenzen, aber die Botschaft dieser Zahlen dürfte für jeden, der sie liest, eindeutig sein. Spielt es hier wirklich noch eine Rolle, wer und wie in der Corona-Statistik erfasst werden sollte? Ob ein Mensch durch Corona-Virus oder mit Corona-Virus gestorben ist? In Italien sterben mittlerweile ungefähr 10% der positiv getesteten. Und wir sind noch weit entfernt vom Höhepunkt der Epidemie.
Auch in Verona sind Plätze in der Intensivtherapie ausgelastet. Erst sah es hier ganz gut aus, deutlich besser als in Padua und als in Venedig. Aber am Wochenende vor 14 Tagen suchten viele Veroneser Familien bei schönstem Frühlingswetter einen Platz zum Austoben am Gardasee und in den Bergen. Schon eine Woche später zeigt sich das nicht nur in den Socialmedia, sondern auch in der Corona-Statistik. Die Ansteckungskurve ging steiler nach oben als in den anderen Städten im Veneto.
Jeder von uns kennt den „Hüttenkoller“ der Weihnachstage, wenn man ungewohnt viel Zeit im engsten Kreis zu Hause verbringt. Aber dieses Mal ist alles anders. Wir haben keine unrealistischen Erartungen an die Familienidylle, keine Ansprüche. Wir haben Angst. In den Krankenhäusern wird mit allen Kräften in einem gnadenloser, neuen Krieg gekämpft. Wer kann, muss zu Hause bleiben. Sonst nichts. Das ist nicht zu viel verlangt.
Wie fühlt sich das an?
Wir sind zu viert zu Hause. Meine beiden Töchter, beide Jura-Studentinnen, gehen seit dem 4. März ihrem Alltag von zu Hause aus nach. Die Vorlesungen finden teilweise online statt, so weit, so gut. Carlotta schreibt an ihrer Examensarbeit, die Abschlussprüfung ist für Ende Juni geplant. Selbst beim Gedanken an diesen Termin, der anfangs noch in weiter Ferne lag, kommt langsam Stress auf. Damit ist kein normaler Prüfungsstress gemeint. Es geht darum, ob, wann und wie das Ganze überhaupt stattfindet. Mal ganz abgesehen von dem geplanten Fest. Aber: Prüfungen, auch Abschlussprüfungen finden zur Zeit per Skype statt. Wenn es so weiterläuft ist alles gut. Hauptsache, man kann zu Hause bleiben.
Allerdings, wie kann es anders sein, fängt ausgerechnet jetzt ihr Laptop an, zu schwächeln. Was tun? Vorsichtshalber gleich einen Ersatz besorgen? Das werden wir so schnell wie möglich versuchen. Aber selbst Online-Bestellungen werden anscheinend in der Region Venezien nicht mehr ausgeliefert, die entsprechenden Fachgeschäfte haben geschlossen. Und nachdem Ministerpräsident Conte gestern Abend auch den Produktionsstopp für alle nicht unbedingt notwendigen Bereiche angekündigt hat, wird morgen erst einmal wieder (zu) viel los sein in den groβen Supermärkten, wo es vielleicht auch noch Computer gibt. Allerdings sollen auch dort alle nicht existenziellen Bereiche, wie Gartenabteilung, geschlossen werden. Also lieber erst einmal abwarten – oder verpassen wir dann die letzte Chance, uns mit dem einen Draht nach drauβen auszustatten, den wir jetzt in unserer privilegierten Home-Office-Position so dringend brauchen?
Die Waschmaschine macht übrigens auch seltsame Geräusche, die wird uns doch hoffentlich nicht ausgerechnet jetzt verlassen?
Mein Arbeitsalltag läuft ganz normal von zu Hause aus weiter, ein Hoch auf die Technologie, die das ermöglicht. Besprechungen finden als Videokonferenzen statt, ein System, das wir im Kollegenkreis in einem internationalen Unternehmen auch vorher schon oft eingesetzt haben. Alle Außentermine sind bis auf Weiteres gestrichen, jede Planung ist unmöglich geworden.
Aber was soll's. Wer zu Hause bleiben kann, ist heilfroh darüber. Mein Mann kann es nicht, er muss als Polizist zum Dienst, ebenso wie die befreundeten Ärzte und Krankenschwestern. Oder die Nachbarin mit dem kleinen Kind, die im Supermarkt arbeitet. Viele ihrer Kollegen sind bereits krank, manche schwer.
Wir haben einen Garten und können auch mal an die frische Luft. Gold wert, denn seit gestern sind selbst Sport und Spaziergänge, auch einzeln und mit Sicherheitsabstand, untersagt bzw. müssen im Umkreis von 200 m von der eigenen Wohnung stattfinden.
Mein Sport und Ausgleich ist Walken, im Schnitt 8-10 km am Tag. Darauf zu verzichten, vor allem jetzt im Fruehling und in dieser besonderen Zeit, faellt mir schon am 2. Tag schwer. Aber es muss sein, also kein Gejammer, wenn das alles ist, was wir aushalten müssen haben wir grosses Glück.
Ein mulmiges Gefühl und eine unterschwellige, ständige Anspannung begleiten uns. Carlotta hatte abends 4 km auf ihrem "Handytacho". Dampf ablassen im Garten. Luxus pur.
Das lebhafte, liebenswerte, laute Land Italien, in dem sich ein groβer Teil des Lebens drauβen abspielt, ist ausgerechnet jetzt an den ersten warmen Frühlingstagen ganz still. Gespenstisch still. Immer. Ein Veneto ohne Spritz. Wer haette das jemals gedacht.
Aber – Hut ab – die Leute halten sich hier bei uns daran. Respektvoll, diszipliniert, ohne Gemecker.
Einkaufen braucht jetzt mehr Zeit, weil man mit seinem Einkaufswagen die Miteinkäufer groβräumig umfahren muss. Hier bei uns auf dem Land, in einem Ort mit 5000 Einwohnern, geht das. Schlangen erlebe ich keine, Versorgungsengpässe auch nicht.
Und wer immer noch keine Angst vor dem Corona-Virus hat, hofft, dass er nicht mal wegen irgendetwas anderem ins Krankenhaus oder zum Arzt muss. Ach ja: Facharzttermine, Kontroll- und Blutuntersuchungen etc. – finden nur noch in extrem dringenden Fällen statt.
Hüttenkoller? Luxussorgen. Wir stecken das weg. Ihr auch?
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